Christlicher Religion kommt im entwicklungspolitischen Zusammenhang eine ebenso zentrale wie ambivalente Rolle zu. Einerseits ist sie durch ihre Verstrickung in die europäische Kolonialgeschichte untrennbar mit der Entstehung globaler Ungleichheitsverhältnisse verbunden. Andererseits sind religiöse Akteur*innen wichtige Player in der Entwicklungszusammenarbeit; und schließlich war und ist christliche Religion auch Quelle radikaler Kritik an Herrschaftsverhältnissen und speist den Widerstand gegen Unterdrückung, sowohl im Rahmen sozialer Bewegungen als auch in theoretischen Debatten. Diesem letztgenannten, bislang wenig beachteten Aspekt möchte sich diese Ausgabe des Journals für Entwicklungspolitik widmen, wobei ein besonderer Fokus auf der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung liegt. Dafür werden aktuelle Positionen eines herrschaftskritischen, politisch engagierten Christentums in den Blick genommen und nach ihrem (radikal-)kritischen Potenzial befragt sowie das Verhältnis zu wichtigen Strängen kritischer Theoriebildung wie der marxistischen Tradition oder ökofeministischen und dekolonialen Diskursen beleuchtet.
Schwerpunktheft (print)
Die Online-Ausgabe finden Sie hier
Einleitung
Soziale Bewegungen und die vielfältigen Formen der Selbstorganisation marginalisierter Gruppen im Globalen Süden sind oftmals von Menschen und Gemeinden entscheidend geprägt, deren Engagement religiös motiviert ist. Dieses Phänomen fordert dazu heraus, die Marx'sche Religionskritik neu zu bedenken. Für Marx selbst war Religion nicht nur falsches Bewusstsein, er erkannte in ihr durchaus ein Protestpotenzial. Das wäre nicht zuletzt angesichts der aktuellen ökologischen Krise neu zu entdecken. Dieser Beitrag möchte in kritischer Auseinandersetzung mit Marx zeigen, dass Religionen unverzichtbare Sinnressourcen für die tiefgreifende gesellschaftliche Transformation, die wir bewältigen müssen, bereitstellen können
Kritik der Religion, (Öko-)Theologie der Befreiung, Kontingenz, Fetischismus, Kosmologie
In Lateinamerika ist in den letzten Jahren die Gewalt gegenFrauen ebenso wie die extraktivistische Ausbeutung der Natur deutlich angestiegen. Neuere soziale Bewegungen und theoretische Ansätze thematisieren beide Phänomene in ihrem strukturellen Zusammenhang und zielen auf eine radikale Veränderung des zugrundeliegenden kapitalistisch-kolonial-patriarchalen Gesellschaftssystems. Ihre Vorschläge für eine echte Dekolonialisierung, die an indigene Kosmovisionen und Gesellschaftskonzepte anknüpft, stellen Herausforderungen für eine feministische Befreiungstheologie dar. In diesem Sinne gehen wir der Frage nach, inwiefern feministische Befreiungstheologie mit neueren Ansätzen dekolonialer und indigener Feminismen vermittelt werden kann, um am Aufbau horizontaler, wechselseitiger Beziehungen zwischen Frauen, Menschen und der nichtmenschlichen Natur mitzuwirken
Befreiungstheologie, Feminismus, Dekolonialisierung, Körper-Territorien, ökosoziale Konflikte
Um einige Charakteristika eines befreiungstheologischen Universalismus zu skizzieren, beziehe ich mich auf Ignacio Ellacurías Konzeption einer ‚Kirche der Armen‘, von der her ich den neurechten Begriff des ‚Ethnopluralismus‘ konfrontiere. Die Grundlinien eines befreiungstheologischen Universalismus werden hier indirekt, vermittels theologischer Reflexionen auf den Begriff ‚Kirche‘, gewonnen. Der Begriff ‚Ethnopluralismus‘ markiert die Rekonfiguration des biologistischen Rassismus durch die Neue Rechte und informiert rechte Agitationen in den globalen Kämpfen um Bewegungsfreiheit und ein gutes Leben für alle Menschen. Der Universalismus der Theologie der Befreiung stellt sich demgegenüber – gerade in der ihm eigenen Partikularisierung des christlichen Heilsuniversalismus – als anti-essenzialistischer Grenzbegriff solidarischer Hoffnung dar.
Universalismus, Rassismus, Ethnopluralismus, Solidarität, Befreiungstheologie