Volume XXXVII • Issue 4 • 2021
Schwerpunktredaktion: Anna Preiser, Mathias Krams
Das JEP-Sonderheft mit dem Schwerpunkt „Imperiale Lebensweise“ geht der Frage nach, auf welche Weise die der ‚europäischen Lebensweise‘ zugrunde liegenden ausbeuterischen Verhältnisse Wirkung entfalten und welchen analytischen Beitrag das Konzept der ‚Imperialen Lebensweise‘ (ILW) zu entwicklungstheoretischen Debatten liefern kann. Im JEP bereits 2012 diskutiert, haben Ulrich Brand und Markus Wissen das Konzept in ihrem 2017 erschienenen Buch Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus systematisch ausgearbeitet. Darin beschreiben sie, wie der Alltag in kapitalistischen Zentren auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und natürlichen Ressourcen in anderen Weltregionen sowie der übermäßigen Nutzung globaler Senken basiert (Brand/Wissen 2017: 43). Wenn also die Gesellschaften im Globalen Norden auf weltweite CO2-Senken zurückgreifen, um ihren überproportionalen Ausstoß an Treibhausgasemissionen zu externalisieren, wenn zur Förderung von Rohstoffen Menschenrechtsverletzungen begangen und Naturräume zerstört werden, wenn durch ungleiche Handelsregime Ökonomien im Globalen Süden benachteiligt werden, dann zeigt sich hierin der exklusive, imperiale Charakter dieser Lebens- und auch Produktionsweise. Sie breitet sich durch ihre materielle Attraktivität zunehmend in den Ländern des Globalen Südens aus, allen voran in China, und verschärft damit globale Konkurrenzverhältnisse und den Wettkampf um rare Ressourcen und Senken.
Die Veröffentlichung des Buches führte zu einer breiten öffentlichen Debatte und stieß einen regen wissenschaftlichen Austausch an. Das Konzept wurde auf Forschungsfelder wie Arbeit, Migration, Degrowth übertragen und dadurch konkretisiert – ein Anliegen, das auch mit diesem Heft in Bezug auf entwicklungstheoretische Zugänge verfolgt wird. Positiv hervorgehoben wurde bislang insbesondere das konsequente Zusammendenken und Verknüpfen der beiden Ebenen Strukturierung und Alltagspraxen: Der Blick auf gesellschaftliche Lebensweisen erhelle wichtige Zusammenhänge zwischen der Attraktivität und zunehmenden Ausbreitung der ILW und der dadurch zugleich bedingten Verunmöglichung ihrer Voraussetzungen – in Form eines Außens und der (fast) unbegrenzten Ausbeutung von Natur und Arbeitskraft. Zugleich werde die Rolle der Reproduktion dieser Verhältnisse im Alltag etwa durch Konsumnormen und Formen der Subjektivierung in den Fokus gerückt.
Doch es gab auch kritische Einwände. Diese bezogen sich auf die Frage nach unterschiedlichen Lebensweisen und den sie stützenden Herrschaftsverhältnissen innerhalb der vereinfachenden Kategorien Globaler Süden und Globaler Norden, auf denen das Konzept der Imperialen Lebensweise stark beruht. So wurde etwa konstatiert, dass der Begriff der Klasse zu unscharf gefasst sei und die Dimensionen von Race und Gender nicht ausreichend berücksichtig würden. Dies würde zudem zu einer Überbetonung von Konsumkritik und individueller Verantwortungszuschreibung führen und zu wenig die Überwindung der innergesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen in den Blick nehmen. Außerdem wurde der Begriff „imperial“ problematisiert und dem Konzept der ILW ein eurozentristischer Bias vorgeworfen, da der Globale Norden als aktiv und maßgebend und der Globale Süden als passives ‚Opfer‘ erscheine.
Das JEP-Sonderheft knüpft an die bisherigen Auseinandersetzungen mit dem Konzept der Imperialen Lebensweise an und möchte mit Bezugnahme auf entwicklungstheoretische Überlegungen einen genaueren Blick auf die Wirkmechanismen werfen, die die imperiale Lebensweise historisch und aktuell ermöglichen und stabilisieren.